Exakt vor 206 Jahren, im Sommer 1815, trafen sich die Delegationen der grossen europäischen Monarchien am Wiener Kongress, um über die Neuordnung Europas zu verhandeln. Für die Sitzungen des so genannten „Schweizer Komitees“ war auch eine Delegation der Schweizer Kantone angereist. Russen, Engländern, Preussen und Franzosen verhandelten aber hinter verschlossen Türen über die Zukunft unseres Landes. Die Schweizer mussten draussen bleiben und konnten ihre Interessen nur zwischen den Sitzungen einbringen. Und das taten sie auch. Allerdings waren die Kantone derart zerstritten, dass jeder Kanton nur für seine eigenen Gebietsansprüche weibelte. Waadt, Aargau, Thurgau und Tessin wollten endlich unabhängige Kantone werden, was die Berner ablehnten. Die Berner wollten die Herrschaft über das Waadtland zurück. Die Genfer wollten zusätzliche Gebiete in Savoyen, wogegen Zürich Sturm lief. Es kämpften also Protestanten gegen Katholiken, Welsche gegen Deutschschweizer, reiche gegen arme Kantone. Oder kurz: alle gegen alle! Und die Grenzen der heutigen Schweiz waren so unklar, wie nie mehr seither. Schliesslich verfügte der Wiener Kongress die heutigen Grenzen der Schweiz, stellte die Kantone einander gleich und verknurrte die Schweiz zur bewaffneten Neutralität. Die Schweiz als kleiner Puffer zwischen den Grossmächten, so lautete der Plan.
Wenn wir heute unseren Nationalfeiertag begehen, scheint es mir wichtig, dass wir uns diese Ereignisse in Erinnerung rufen. Die moderne Schweiz, der Bund von 1848, gäbe es ohne den Wiener Kongress heute nicht. Wo unser Land heute anfängt und wo es aufhört, welche Kantone Teil des Bundes werden und welchen Platz die Schweiz in Europa einnehmen soll: Das alles Stand vor rund 200 Jahren auf Messers Schneide.
Mit der ersten Bundesverfassung von 1848 wurde dieser aufgezwungene Bund von 1815 in etwas neues transformiert. In einen modernen Staat mit Institutionen und einer ersten Form der Demokratie. Liberale, Demokraten und Arbeiterbewegung erkämpften dann Schritt für Schritt Rechtsstaat, einen starken Service public, die direkte Demokratie, das Proporz- und das Frauenstimmrecht, wodurch unser Land das wurde, was es heute ist.
Vieles, was unser Land so wunderbar vielseitig und lebenswert macht – die Vielsprachigkeit, die besondere Geographie, das demokratische System und unser Wohlstand – ist alles andere als selbstverständlich. Es ist sowohl einer Laune der Geschichte als auch dem Wille seiner Einwohnerinnen und Einwohner es zu erhalten und zu verbessern geschuldet.
Die Coronavirus-Pandemie hat unser Land in unvergleichlicher Weise gefordert. Und auch wenn wir langsam Licht am Ende des Tunnels sehen können, ist diese Krise doch noch nicht ausgestanden. Die ungleiche Verteilung von Impfstoffen und neue Virusvarianten in anderen Weltregionen haben einen direkten Einfluss auf unser Leben in der Schweiz. Die Schweiz ist in dieser Situation so verletzlich wie alle anderen Länder. Vor dem Virus sind wir kein Sonderfall. Und doch sind wir besser durch diese Krise gekommen als andere. Dank unseren Institutionen. Dank einem starken Staat. Dank dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität.
Die Krise hat es einmal mehr gezeigt: Die Schweiz ist ein besonderes Land. Aber die Schweiz ist auch ein Land wie jedes andere. Beides ist wahr. Und genau deshalb müssen wir Zusammenhalt und Fortschritt in unserer Gesellschaft fördern und Austausch, Zusammenarbeit und Solidarität mit unseren Nachbarn ausbauen.
Als der Wiener Kongress die Schweiz zum Puffer zwischen den europäischen Grossmächten machte, ging es um die Verhinderung neuer Kriege. Dieser Plan scheiterte leider kolossal. Auf den Wiener Kongress und seine neue Machtordnung folgten zwei vernichtende Weltkriege. Die Antwort Europas auf diese Erfahrung war eine neue. Anstatt ein fragiles Gleichgewicht der Grossmächte mit neutralen Puffern, sollte Europa zusammenwachsen. Zusammenarbeit und gemeinsame Institutionen, so wie in der Schweiz, sollten fortan den Frieden sichern. Dass dieser Plan besser funktionierte als der Plan des Wiener Kongress, ist keine Selbstverständlichkeit. Wir können uns glücklich schätzen, dass auch wir in der Schweiz seit mehr als 70 Jahren auf einem friedlichen Kontinent leben.
Corona hat gezeigt: Die Zukunft ist unbekannt und unsicher. Klimawandel, steigende Ungleichheit und Digitalisierung werden unser Zusammenleben verändern. Und doch schaue ich zuversichtlich in die nächsten Jahre. Die Schweiz hat viel geschafft, weil wir uns Veränderungen immer gut angepasst haben. Manchmal wünsche ich mir aber, dass wir als Schweiz es sind, die die Veränderung sind. Lösen wir uns vom Erbe des Wiener Kongresses! Wir sind mehr als ein Puffer auf der Landkarte. Wir sind die Schweiz. Wir können viel mehr geben und wir sind zu viel mehr im Stande, als wir oft denken.
Am 1. August feiern wir die Schweiz und das Privileg, hier leben zu dürfen. Dieses Glück verdanken ein Stück weit auch Europa. Vergessen wir das nie.
Ich wünsche Ihnen allen einen frohen und motivierenden 1. August!
Rede zum Nationalfeiertag in Mönchaltdorf ZH. Es gilt das gesprochene Wort.
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